Abweichende Meinungen in sozialen Fragen und Ruf nach der Priesterweihe für Frauen
Der Vatikan hat Massnahmen angeordnet, um den grössten Verband amerikanischer Nonnen an die Leine der Römer Glaubenslehre zu legen. Die Ordensfrauen waren mit abweichenden Meinungen in sozialen Fragen ins Visier des Vatikans geraten.
Die Leadership Conference of Women Religious (LCWR), der mit Abstand grösste amerikanische Verband katholischer Ordensfrauen, ist ins Visier des Vatikans geraten und soll nun von den katholischen Bischöfen der USA zurück auf den Pfad der offiziellen Glaubenslehre gebracht werden. Die Ordensfrauen hatten sich in ihrer Einstellung gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen zu viel Freiheit herausgenommen. Besonders vorgeworfen wird ihnen, zu Homosexualität, Abtreibung und Euthanasie zu schweigen, die Priesterweihe für Frauen zu fordern und feministischen Lehren anzuhängen.
Hilfe statt Belehrung
Die LCWR vertritt nach eigenen Angaben mehr als 80 Prozent der rund 57’000 amerikanischen Ordensfrauen. Viele sind in gemeinnützigen Institutionen, in Spitälern, Auffangeinrichtungen aller Arten oder Schulen engagiert. Sie haben dabei häufigen und intensiven Kontakt mit den Randgruppen der amerikanischen Gesellschaft, und sie stellen Hilfe über Belehrung. Obwohl die Nonnen zur grossen Mehrheit über 60 Jahre alt sind, könnten viele dieser Institutionen ohne die Ordensfrauen nicht ohne weiteres überleben.
Der Nachwuchsmangel und die daraus resultierende Überalterung der Frauenorden gab dem Vatikan den offiziellen Anlass für eine Untersuchung. Doch schon zu deren Beginn vor drei Jahren war für viele Ordensfrauen klar, dass den Bischöfen vor allem ihre zunehmende Autonomie in die Nase stach. Dies zeigte sich auch in der jüngsten Kontroverse zwischen der Bischofskonferenz und dem Weissen Haus um empfängnisverhütende Massnahmen als Teil der obligatorischen Krankenversicherungen, als sich die LCWR gegen die Bischöfe und hinter Obama stellte.
Die Leitung des Dachverbands erklärte am Donnerstag auf der LCWR-Website, sie sei angesichts des Berichts über die Untersuchung durch die Glaubenskongregation fassungslos. Sie lässt durchscheinen, dass sie von den Schlussfolgerungen des Vatikans überrumpelt worden sei, obwohl sie sich vorschriftsgemäss jedes Jahr in Rom mit Mitgliedern der Glaubenskongregation treffe. Der Führungsausschuss des Verbands werde sich im kommenden Monat zu Beratungen versammeln und dann eine angemessene Antwort veröffentlichen, erklärte die LCWR-Präsidentschaft. Der Plan des Vatikans sieht vor, den Verband für bis zu fünf Jahre unter die Aufsicht eines bischöflichen Gremiums unter Leitung des Erzbischofs von Seattle, Peter Sartain, zu stellen.
Offensiveres Auftreten
Das Vorgehen des Vatikans gegen die Ordensfrauen hat bereits zu einigen bitterbösen Kommentaren in amerikanischen Medien geführt. Dabei wurde beispielsweise angemerkt, die katholische Kirche in den USA fühle sich offensichtlich stark genug, um wieder offensiver aufzutreten, nachdem sie unter der Last der Anschuldigungen gegen ihren Klerus wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen über Jahre hinweg versucht habe, sich möglichst aus den Schlagzeilen herauszuhalten. Allerdings gestehen die meisten Beobachter mindestens implizit ein: Dass die Kirche unter Papst Benedikt XVI früher oder später versuchen würde, gegen die selbstbewussten und offenbar allzu autonomen amerikanischen Ordensfrauen vorzugehen, überrascht auch in den Vereinigten Staaten niemanden.
Peter Winkler, Washington, NZZ