Jesus Christus zog überdurchschnittlich viele Frauen an. Ohne sie hätte er sich nie durchgesetzt.
Vermutlich im Jahr 30 oder 33, vor fast zweitausend Jahren, wurde Jesus von Nazareth in Jerusalem von den römischen Behörden gekreuzigt. Mit seinem Tod begann der Aufstieg einer Religion, die heute rund 2,4 Milliarden Gläubige zählt, es setzte der Triumph eines Glaubens ein, einer Kultur, einer Alltagspraxis, einer politischen Tradition auch, die allesamt den Westen zu dem machten, was er noch heute ist: ein Ort, wo Menschen in beispiellosem Wohlstand und einer in der Weltgeschichte nie vorher erreichten persönlichen Freiheit leben.
Es gibt wenige Fragen, die die Historiker seither mehr beschäftigt haben, als diese: Warum setzten sich die Christen durch? Wie war es möglich, dass ein junger Mann, der als krimineller Aufwiegler, als gefährlicher Fanatiker oder naiver Schwärmer am Kreuz starb, ein Mann auch, der eine Religion der Schwäche predigte, des Nachgebens, der Niederlagen und der bedingungslosen Liebe, dass sich so ein Mann zum Begründer einer der wirkungsvollsten und mächtigsten Religionen aller Zeiten aufschwang? Warum?
Annäherungen an ein Rätsel
Für einen religiösen Christen dürfte dies keine allzu schwierige Frage darstellen, da er Gott auf seiner Seite vermutet, für die Übrigen aber bleibt es ein Wunder – um unsere Ratlosigkeit mit einem durchaus christlichen Begriff zu umschreiben. Lag es an der Dekadenz der Römer, dass sie an das Eigene nicht mehr glaubten und daher offen waren für vollkommen neue, fremde Botschaften? Lag es an der Verfolgung, die die frühen Christen durch den Staat erlitten? Machte sie erst stark, was sie in den Augen ihrer zahllosen Feinde schwächen sollte? Oder traf Jesus von Nazareth, ein gläubiger Jude, dem wohl nie und nimmer eine neue Religion vorgeschwebt hatte, traf er schlicht den Nerv seiner Zeitgenossen, wie ein guter Schriftsteller oder Revolutionär, indem er das alte Judentum stark vereinfachte und so den Heiden, den Nicht-Juden einen Monotheismus bot, den sie verstanden und vor allem zu praktizieren vermochten, ohne ihr Leben und ihre Identität vollkommen aufgeben zu müssen? Nach wie vor liegen zahlreiche Theorien vor, endgültig geklärt ist nichts, wie das in der Geschichtsschreibung meistens der Fall ist.
Ein ausserordentlich anregendes Buch in dieser Hinsicht hat der amerikanische Religionssoziologe Rodney Stark vorgelegt («The Rise of Christianity»), worin er verschiedene Erklärungen für das vermeintlich Unerklärliche anbot, unter anderem eine, die ich hier vorstellen möchte, weil sie so ganz und gar dem zu widersprechen scheint, was heute die Menschen mit dem Christentum verbinden: Das Christentum war zu Beginn eine Religion, die besonders Frauen ansprach. Schon Jesus Christus fand zu seinen Lebzeiten sehr rasch sehr viele Anhängerinnen, und auch nach seinem Tod, so weist Stark nach, gab es in der frühen Kirche stets deutlich mehr Frauen als Männer.
Obschon sich dies nicht mehr präzis angeben lässt, geht die Forschung von einem Verhältnis von etwa 60 zu 40 Prozent zugunsten der Frauen aus. Ebenso gab es nicht bloss mehr Frauen, sondern sie spielten in der frühen Kirche auch an verantwortungsvoller Stelle eine prominente Rolle. Zwar war ihnen das Priesteramt verwehrt, doch alle anderen Positionen standen ihnen offen – und sie nutzten diese Möglichkeit in hohem Masse.
Schon Paulus, der grosse Apostel, den manche für frauenfeindlich halten, wandte sich ausdrücklich an Frauen, die etwa als Diakoninnen dienten oder sonst wichtige Ämter versahen. Sehr beliebt war das Christentum bei Frauen der römischen Oberschicht, was oft dazu führte, dass auch ihre Männer sich dieser Religion annäherten, was der Kirche – trotz Verfolgung – oft half, selbst wenn diese Männer Heiden blieben. Einflussreiche Männer schützten ihre christlichen Frauen – und nicht selten vererbten diese reichen Frauen ihren Besitz an die Kirche.
Was die Kirche an diesen Frauen hatte, die wie Pioniere in unwirtliches Territorium vorstiessen, musste den Bischöfen und Priestern bewusst gewesen sein: Im Gegensatz zu vielen anderen Sekten jener Zeit ermunterten sie ihre Gläubigen dazu, Nicht-Christen zu heiraten, offensichtlich im Wissen, dass am Ende der Ehepartner sich gleichfalls der Kirche anschloss. Fast immer wuchsen die Kinder aus solch gemischten Ehen als Christen auf – und fast immer waren es christliche Frauen, die heidnische Männer heirateten und sie so für den Glauben gewannen.
Sexismus in der Antike
Warum zog das Christentum die Frauen an? Entgegen der allzu begeisterten Schilderungen unserer Latein- und Griechischlehrer war die antike Gesellschaft ausgesprochen frauenfeindlich: Im klassischen Athen hatten die Frauen so gut wie keine Rechte und wurden ihr Leben lang wie unmündige Kinder behandelt. Im alten Rom war nichts weniger erwünscht als eine Tochter: Weibliche Säuglinge wurden sehr häufig nach der Geburt umgebracht, indem man sie aussetzte, bis sie von einem Tier gefressen wurden, verhungerten oder verdursteten.
«Ich bitte Dich, gut auf unseren Buben zu achten», schrieb ein besorgter römischer Vater seiner schwangeren Frau, bevor dieser Bub überhaupt geboren war. «Wenn das Kind zur Welt kommen sollte, bevor ich von meiner Geschäftsreise heimkomme, dann behalte es, wenn es ein Bub ist. Wenn es dagegen ein Mädchen ist, wirf es weg.» Und zärtlich fügte er an: «Du hast mir geschrieben: Vergiss mich nicht! Wie könnte ich Dich vergessen! Mach Dir keine Sorgen.» Ob seine Frau ein Mädchen gebar, wissen wir nicht. Sicher hätte es nicht überlebt.
Töchter galten als so unbeliebt, dass es kaum eine römische Familie gab, die mehr als eine einzige Tochter aufzog. Die Folgen waren verheerend: Bald wies die römische Gesellschaft ein völlig abnormales Geschlechterverhältnis auf. Im antiken Italien, so haben Forscher berechnet, kamen auf 140 Männer bloss 100 Frauen. Je rarer die Frauen, das zeigt das Beispiel auch anderer Gesellschaften, desto unfreier sind sie, desto schlechter werden sie gestellt, desto jünger übergibt man sie der Kontrolle eines Mannes.
In Rom wurden Mädchen in der Regel im Alter von zwölf Jahren verheiratet, an Männer, die zehn, nein, zwanzig Jahre älter waren und die, kaum verheiratet, ihre Kinderbräute auch sofort schwängerten. Ebenso verbreitet war es, Kinder abzutreiben, besser: Die Männer liessen abtreiben, und dies wurde mit einer solchen Brutalität getan, dass auch die Mütter sehr oft daran starben. Natürlich fehlte es am nötigen medizinischen Wissen.
Der berühmte römische Medizinschriftsteller Aulus Cornelius Celsus beschrieb im ersten Jahrhundert nach Christus in seinem Standardwerk «De Medicina», wie man dabei verfuhr: Mit einer «gefetteten Hand» drang der Arzt durch die Vagina der Frau in die Gebärmutter ein, um so den Fötus herauszukomplimentieren, ob tot oder lebendig.
Lag der Säugling mit dem Kopf nach unten, empfahl Celsus dem Arzt einen Haken, den er «in ein Auge, ein Ohr oder den Mund hängte, manchmal auch in die Stirn, um so den Fötus herauszuziehen». Befand sich der Säugling in der Steisslage, lag der Kopf also oben oder gar zur Seite, sollte der Arzt ein Messer zur Hand nehmen, dieses in die Gebärmutter einführen und dort den Säugling in Stücke schneiden, damit man ihn so aus dem Körper der Frau bringen konnte. Nachher, so riet Celsus, sollten der Frau die Schenkel zusammengebunden werden. Schliesslich belegte der Arzt ihren Schambereich mit «gefetteter Wolle, die man in Weinessig und Rosenöl getaucht hatte». Die meisten Frauen überlebten das Prozedere nicht.
Progressives Christentum
Das Christentum beendete diese Barbarei. Aus religiösen Gründen war es verboten, Kinder auszusetzen und zu töten, ob Bub oder Mädchen, geradeso war es untersagt, Säuglinge abzutreiben. Dies alles entbehrt nicht der Ironie: Gilt es heute als besonders frauenfreundlich, wenn man sich für das Recht auf Abtreibung starkmacht, war in der Antike genau das Gegenteil der Fall: Die progressive christliche Kirche lehnte die Abtreibung strikte ab und schützte damit die Frauen vor dem (fast) sicheren Tod. Allein dies dürfte das Christentum in den Augen der vielen misshandelten, geplagten Frauen attraktiv gemacht haben.
Doch diese Religion trat grundsätzlich für ein egalitäreres Verhältnis der Geschlechter ein – vor Gott waren alle Menschen gleich, ob Männer, Frauen, aber auch Freie, Sklaven, Römer oder Griechen, Germanen oder Helvetier. Selbst auf Erden ging es christlichen Frauen deshalb besser als heidnischen: So konnten Christinnen in der frühen Kirche mitreden, sie durften ihr Eigentum vererben (gerne auch der Kirche), und Witwen wurden nicht gezwungen, sich sofort wieder zu verheiraten, nachdem ihr Mann gestorben war.
Der Familie, der Ehe, ja der Fortpflanzung überhaupt kam in diesem Glauben eine grosse Bedeutung zu, was die Stellung der Frauen zusätzlich festigte. Gewiss, auch die Christen hielten das Patriarchat immer aufrecht, und später, etwa im Mittelalter, sollten sich die Dinge erneut zuungunsten der Frauen verändern. Alles ist relativ. Doch in den ersten fünf Jahrhunderten zog dieser Glaube die Frauen zu Recht zu Tausenden an, weil sie hier sehr viel besser behandelt wurden als in der heidnischen Gesellschaft des römischen Kaiserreichs.
Die neue Religion befreite, tröstete, adelte und machte gleicher – und diese Tradition wirkt bis heute nach. Ohne Christentum, das wird oft verkannt, wäre es im Westen wohl nie zur Gleichstellung der Geschlechter gekommen.
Quelle: Basler Zeitung